Afaf Ibrahim Meleis: Pflegetheorie; Verlag Hans Huber, Bern 1999
S. 129-130
5. Die Entstehung des Fachgebiets Pflege als Wissenschaft
Die Epistemologie, Wissenschaftslehre, ist
ein Zweig der Philosophie, der sich mit der Geschichte von Wissen beschäftigt.
Sie stellt und beantwortet Fragen nach den Arten, dem Ursprung, dem Wesen, der
Struktur, der Reichweite, der Zuverlässigkeit, den Methoden und Grenzen der
Wissensentwicklung und umreißt die verschiedenen Kriterien, die erfüllt sein
müssen, damit Wissen akzeptiert wird. In diesem Kapitel werden mehrere Themen
erörtert, mit denen sich die pflegewissenschaftliche Disziplin in der
Vergangenheit vorrangig beschäftigt hat. Diese Themen sind:
- theoretisches Wachstum: Revolution,
Evolution oder Integration
- von der übernommenen Sicht zur eigenen Sicht
- von Übereinstimmung zur Weltanschauung.
Es ist für die Entwicklung und den
Fortschritt in jedem Bereich äußerst wichtig zu verstehen, wie Wissen entsteht,
wie wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt werden und wie Wissen akzeptiert
wird. Solches Wissen ist für die genauere Definition von Zielen hilfreich, die
vom einzelnen Wissenschaftler oder von der Disziplin als Ganzes angestrebt
werden sollen (Andreoli, Thompson, 1977; Baer, 1979; Carper, 1978; Silva,
1977). Deshalb hilft uns das Studium epistemologischer Fragen, folgendes zu
erreichen:
- ein stärkeres Bewußtsein für die Komplexität
und Verschiedenartigkeit von Perspektiven, Ansichten und Theorien (die sich
manchmal widersprechen) über wissenschaftlichen Fortschritt, Wahrheit und die
Methodologie von Wahrheit
- unterscheiden können zwischen
verschiedenen Arten von Problemen des Wissens und der Entwicklung und sich
daraufhin bewußt mit solchen Themen befassen, die mit dem theoretischen
Fortschritt der pflegewissenschaftlichen Disziplin in engster Beziehung stehen
- mit potentiellen epistemologischen Zwängen
umgehen können, die, wie unangemessen sie auch sein mögen, aus der de-factoAkzeptanz
einer bestimmten Ansicht, Theorie oder Perspektive erwachsen, wenn Alternativen
nicht sorgfältig geprüft werden.
In den letzten Jahrzehnten haben wir
reichlich Pflegewissen über Versorgung und Betreuung, Interaktionen, die
Förderung einer gesunden Umgebung, Rollenersatz, Förderung von Genesung und
Heilung angesammelt. Wenn wir weiter zulassen, daß sich unser Wissen auf
zufällige Weise entwickelt, unzusammenhängend oder ziellos, schreiten wir
vielleicht nicht so schnell voran, wie wir es uns wünschen, oder in die
Richtung, die wir uns wünschen. Eine Zeit der Reflexion über den Gang der
Entwicklung der pflegerischen Wissensbasis, insbesondere ihres theoretischen
Fortschritts, verschafft uns die Möglichkeit, unseren Fortschritt zu erkennen,
und bietet gleichzeitig die für eine organisiertere künftige Entwicklung notwendige
Atempause.
Thema dieses Buches ist die Rolle von Theorie in der Entwicklung von Pflegewissen, obwohl klar ist, daß Wissen weit mehr umfaßt als Theorie - es umfaßt sowohl Forschung, gesunden Menschenverstand und Philosophie als auch die vorhandene und angestrebte Pflegepraxis. Die folgende Diskussion befaßt sich mit der Evolution von Theorie in der Pflege, geht jedoch auch darüber hinaus.