José Carlos Somoza: Clara; Claasen, München, 2001

S. 312-313

 

ALS CLARA AN JENEM 28. Juni, einem Mittwoch, erwachte, waren Gerardo und Uhl bereits eingetroffen. An ihren Mienen glaubte sie zu erkennen, dass eine ganz besondere Sitzung bevorstand. Sie stellten die Taschen auf den Boden, und Gerardo sagte: »Heute werden wir nicht mit Farbe arbeiten. Wir möchten Polygone zeichnen.«

So wurden die Stellproben genannt, die zeigen sollten, wie es um die körperliche Eignung der Leinwand bestellt war. Sie frühstückte maßvoll und nahm die von F & W verordneten Tabletten ein, um die Leistungsfähigkeit ihrer Muskulatur zu erhöhen und ihre körperlichen Bedürfnisse möglichst gering zu halten. Es würde ein schwerer Tag werden, warnte Gerardo.

»Fangen wir an«, sagte sie.

Sie hatten einen Ledersitz ohne Lehne mitgebracht. Uhl holte ihn aus dem Lieferwagen und stellte ihn in den Raum. Nachdem sie den Teppich und das Sofa entfernt hatten, fingen sie an, Clara zu manipulieren. Sie bogen ihren Oberkörper nach hinten und lehnten ihr Steißbein gegen den Sitz, hoben erst ihr eines Bein hoch, darauf das andere, dann streckten und beugten sie abwechselnd ihre beiden Beine, legten die endgültige Pose fest und programmierten den Kurzzeitwecker.

Die Starre bedeutete vor allem, auf nichts zu reagieren. Man bekam Signale und fühlte sich zunehmend unbehaglicher. Das Gehirn reagierte mit Anspannung, als zöge es seine Zügel an, wie bei einem Fohlen. Das Unbehagen wurde zum Schmerz, der Schmerz zur Obsession. Die Methode, dies auszuhalten (sie wurde an den Kunstakademien gelehrt), bestand darin, all die verschiedenen Informationen zu registrieren, sie dabei aber auf Abstand zu halten, als geschähe nichts. Was tatsächlich geschah, war lediglich, dass sich der Rücken bog oder die Wadenmuskeln anspannten. Von diesem Vorgang abgesehen, gab es nur Empfindungen: Unbequemlichkeit, Krämpfe, ein wirrer Strom von Reizen und Gedanken, ein Schwall von Glasscherben. Mit entsprechender Übung lernte die Leinwand, diesen Ansturm zu bewältigen, ihn auf Abstand zu halten, zu sehen, wie er sich zusammenbraute, ohne dabei die Pose zu verändern.

Ganz versunken in ihre Verrenkung - den Kopf auf dem Boden, die Arme daneben, den Blick starr auf die Wand gerichtet, die Beine angehoben und das Steißbein an den Sitz gelehnt -, fühlte sich Clara wie eine Schale, die gleich aufbrechen und etwas Neues hervorbringen würde. Sie kannte keine bessere Methode, der Last ihres Körpers zu entfliehen, als eine unbequeme Pose. Ihr Geist streifte seine Erinnerungen ab, seine Befürchtungen, seine komplizierten Gedanken und konzentrierte sich ganz auf die Struktur der Muskulatur. Es war wunderbar, Clara hinter sich zu lassen und zu einem weitgehend schmerzunempfindlichen Objekt zu werden.